Auch Haare gehen auf Zeitreise
Herrenberg - Electro Swing liegt in der Luft. Das Genre, das gestern und heute vermischt, feiert überall Feste. Weshalb also nicht in Herrenberg? Im Mauerwerk wurde am Samstag bis spät in die Nacht getanzt zu einer Musik, die fast schon 100 Jahre alt ist. Die Zeitmaschine erfasste auch Kleidung und Haare der Partygäste, um sie mit in die Vergangenheit zu reißen.
Thomas Morawitzky
Tot war der Swing noch nie und sein Revival ist schon viele Jahre alt. Electro Swing allerdings hat mit Roger Cicero nicht viel zu tun. Electro Swing ist eine Clubmusik, bei der eine Swingband sich um synthetische Sounds erweitert. Alles soll in die Beine fahren, die Stimmung explodieren lassen, die Tanzwut auf die Spitze treiben. Und das tut es auch. Der Trend hat sich längst schon überall ausgebreitet. In Vaihingen/Enz zum Beispiel gibt es einen Electro-Swing-Verein, und dieser Verein hat eine Hausband: "Sanchez And The Sunshine Band" heißt sie. Sanchez und seine sonnigen Freunde spielten nun also im Mauerwerk. Sehr spät allerdings, erst nach 23 Uhr. Davor sorgte DJ Kubin aus Konstanz für nostalgische Stimmung.
Auch in den wilden 1920er Jahren lebte man des Nachts. Die rauschhaften Partys der Swing-Ära kann man sich im Kino ansehen oder auf DVD: 1974 spielte Robert Redford den "Großen Gatsby", 2013 war es Leonardo DiCaprio. Die frechen jungen Frauen der High Society jener Zeit nannte man "Flappers" - ihrer Flatterhaftigkeit halber. Auch sie haben im Kino überlebt. "Flappers and Philosophers", so hieß das zweite Buch von F. Scott Fitzgerald, das 1920 erschien. Der deutsche Titel "Backfische und Philosophen" trifft es nicht ganz: Diese Damen hatten es faustdick hinter den Ohren. Sie waren die ersten Frauen, die öffentlich rauchten, sich schminkten, sehr lockere Kleidung trugen und exzessiv tanzten. Das Wort "Flapper" hatte in den Goldenen 20ern einen skandalösen Klang: Enthaltsamkeit war bei ihnen keine Mode.
Die Damen, die ins Mauerwerk strömten, schauten sich bei ihnen nicht alles ab - zumindest aber den Look. Die lange Perlenkette war präsent, die Zigarettenspitze lag mondän in zarten Händen, und im Foyer des Mauerwerks sorgten Friseurin Conny Kegreiß und ihr Team dafür, dass auch die Frisur auf Zeitreise ging: Die Haare legten sich in Wellen und kringelten sich pomadisiert um die Öhrchen. Dazu die Musik: Wozu die Großväter der Großväter einst in Amerika Charleston tanzten fügt sich hervorragend ein in minimale Computerbeats. Die Perlenketten beginnen, am Hals zu wackeln - und schon geht sie ab, die Post. "Sehr tanzbereit", sagt Johannes Stoll, dem die Idee zur Herrenberger Electro-Swing-Party kam, sei das Publikum gewesen, und das bis um 3 Uhr am Sonntagmorgen. Eine Wiederholung wird es geben. Wann, das ist noch offen, "aber dann wollen wir das Haus voll machen".
» Mehr zu Herrenberg